Handlungsfähigkeit hängt am „System-Zustand“ oder State
Was brauche ich um ein Problem wirklich zu lösen? 10 Dinge gleichzeitig? Angst? Unsicherheit? Denkverbote? Win-Loose? Wahrscheinlich eher nicht. Drum lasst uns mal aus einer systemischen bzw. neurosystemischen Perspektive die Frage etwas anders stellen?
Was braucht ein System, um sich selbst weiter zu entwickeln, neue Fähigkeiten zu erwerben und eingefahrene Muster zu verändern … um Probleme/ Herausforderungen / Krisen zu meistern? Genau
- Motivation for Change, also ein gutes Wofür. Wofür lohnt es sich Energie zu investieren? Wofür müssen wir jetzt etablierte Lösungen und Strukturen verändern?
- Die Möglichkeit neue Erfahrungen zu verarbeiten und die Erkenntnisse aus den Erfolgen, aber auch den Misserfolgen zu verarbeiten. Also Raum für #LessonsLearned
- Verständliche Indikatoren, mit denen beurteilt werden kann, ob die neuen Lösungsansätze besser funktionieren
- Das Erleben von Psychologischer Sicherheit (S.A.F.E.T.Y), damit Probleme und „Wahrheiten“ auch angesprochen werden können.
- und ausreichend Energie und „Zeit“ um sich den Problemen angemessen zu widmen
All get the experience, some get the lesson!
Dr. John Scherer, Wiser at Work
In der Praxis erlebe ich (vor allem bei Führungskräften) jedoch etwas ganz anderen. Sie sollen gleichzeitig Exzellenz liefern und Change voran treiben, am besten dabei noch ihren Bereich für XYZ alignen, also an neuen Vorgaben ausrichten – und natürlich den Zusammenhalt im Team stärken. In anderen Worten, es sollen ganz viele parallele Ziele gleichzeitig erfüllt werden. Klappt das nicht, hat das natürlich Auswirkungen auf die Boni und die nächsten Karriere-Schritte. Effekt: Es entsteht das Erleben von mehr Stress, im Zweifel eine Angst nicht allem gerecht zu werden, die Sorge durch die Abhängigkeit von anderen die Ziele nicht zu erreichen (wir denken an die VUCA Welt) und ggf. damit der Eindruck, nicht gut genug zu sein.
The State defines the outcome … Rot statt Orange 🙁
Soweit wohl wenig neues. Zumindest dem oberen Management sind die Dinge bewusst. Das Aha-Erlebnis kommt, wenn man 3 Themen zusammenbringt, Problemarten differenziert (CYNEFIN nach Dave Snowdon – siehe unten) und versteht wie die Wirkmechanismen die Handlungsfähigkeit beeinflussen.
1.) Problemart und Graves Stufen
Dave Snowdon unterscheided de facto einfache, kompliziert, komplexe, chaotische und undefinierte Probleme. Für jede der Problemarten empfiehlt er ein anderes Vorgehensmodell (siehe Video). Für uns entscheidend sind kompliziert und komplex.
kompliziert (complicated) = erkennen – analysieren – reagieren (lösen)
Dave Snowdon
komplex (complex) = ausprobieren – erkennen – reagieren (lösen)
Der zentrale Unterschied liegt darin, dass komplizierte Probleme mit genug Zeit von Experten gelöst werden können und irgendwann sog. Best Practices, also standardisierte Lösungen entwickelt werden können, mit eindeutig benennbaren Kriterien (wann sinnvoll). Bei komplexen Problemen beeinflussen sich die verschiedenen Faktoren so stark, so schnell gegenseitig, dass es nur möglich ist durch Experimente (Try and Error) zu Lösungen zu kommen. Ein gutes Beispiel sind Software-Projekte, wo sich Technologien und Schnittstellen schnell ändern und somit immer wieder Anpassungen vorgenommen werden müssen. (Ein Hauptkriterium für die Nutzung von agilen Methoden).
Nun zu Graves. Die Stufe Blau ist sehr gut darin komplizierte Probleme zu lösen und sog. Wasserfall Projekte zu meistern. Auch gelingt es gut Matrix-Strukturen zu leben und z.B. Fachabteilungen und Projekte so zu organisieren. Verändern sich jedoch Parameter sehr schnell, ist nicht mehr genug Zeit für die Analyse (Problem wechselt von kompliziert zu komplex), kann Blau überfordert wirken. Die Folge kann sowohl sein, dass nicht mehr der Projekterfolg in den Blick genommen wird, man sich auf Standards und Formalia zurück zieht (also Bürokratie und Stau) – oder die Überforderung dazu führt wieder auf die Stufe Rot zu gehen, um zu Versuchen einfachere (oder sogar einfache) Lösungen zu suchen bzw. eine Leitfigur, die einem sagt was zu tun ist.
=> Problem: Weder Blau noch Rot können nachhaltig komplexe Probleme angemessen lösen!
2.) Systemzustand und Notfall-Modus (Fight, Flight, Freeze, Fold)
Aus der Neurobiologie wissen wir, dass im Notfallmodus der Körper nurnoch auf die 4 Grundstrategien zurückgreifen kann – Angreifen, Flüchten, sich totstellen oder klein machen. Stephen Gilligan beschreibt das im „Generative Coaching“ als Crash-State. In diesem Zustand sind eben keine kreativen Lösungen möglich, und auch unser Neo-Cortex, also unser „kognitives Denken“ wird von den alten Hirnarealen (Stammhirn, Limbisches System) übersteuert. Wir können nur noch reagieren und weniger agieren.
Auch in der Acceptance und Commitment Theory (insbesondere Russ Harris, The Happyness Trap) wird das sehr schön beschrieben als „getting hooked“ … also wenn wir nicht mehr wirklich Handlungsfähig sind. Heißt in anderen Worten, wenn die o.g. Situationen dazu führen, dass wir als Organisation in den Notfallmodus gehen (Angst, Unsicherheit, Misstrauen) und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch nicht mehr in ihre Kraft kommen, ist unsere Handlungsfähigkeit deutlich eingeschränkt – und das Lernen aus Fehler funktioniert nicht mehr.
=> Problem: Im Notfall-Modus findet kein Lernen statt, eine Weiterentwicklung zur Stufe Orange ist schwer möglich!
3.) Gutes Wofür, Vision und Klarheit statt Widersprüche
Häufig wird beim Change vergessen zu erklären, wofür dieser denn gut sei. Auch erleben viele MA die Aussagen von verschiedenen Akteuren als widersprüchlich bzw. „nicht ehrlich“… es entsteht nicht nur ein Misstrauen, sondern eben auch ein Vertrauensverlust sowie fehlende Orientierung. Im Idealfall wird dies dann noch verstärkt, durch regelmäßige Zieländerungen, Reorganisationen und „Sonderrechte für höhere Führungskräfte“.
In anderen Worten, Change – auch ongoing Change und aufeinanderfolgende Reorganisationen sind nicht per se ein Problem. Es kann gut gelingen wenn Klarheit über die Vision, das gute Wofür und vor allem die Rollen und Verantwortlichkeiten hergestellt wird (siehe nachfolgend Ruf/Call). Denn dann sind MA in der Lage sich zu orientieren, können Entscheidungen treffen und vor allem Schnittstellen-Themen nachhaltig(-er) klären.
Wichtig: Fehlt diese Klarheit, ist Verantwortungsübernahme schwierig. Dadurch entsteht die Gefahr sich für Dinge verantwortlich zu fühlen die man selbst nicht entscheiden oder beeinflussen kann – was sehr schnell zu Überlastungserscheinungen führen kann. Siehe hierzu auch unser Video zum Circle of Influence (COI).
https://youtu.be/Vr4AQNzaYws
Fazit – Management Summary
Damit Systeme sich weiterentwickeln, neue Problemlösungen entwickeln können müssen sie aus dem Notfall-Programm heraus kommen, hin zu einem „Normal-Zustand„. Insbesondere für Business-Organisationen und MA ist das aktuell entscheidend, da die Mehrzahl der aktuellen Probleme komplexer Natur ist. Diese Probleme können auf der Stufe Blau (Graves) jedoch noch nicht adäquat gelöst werden, es braucht Stufe Orange. Durch die erlebte Überforderung vieler MA, fehlende Klarheit, fehlende Psychologische Sicherheit, hohes Stresserleben ist die Weiterentwicklung von Blau zu Orange kaum möglich. Um die Probleme scheinbar besser lösen zu können, gehen viele Organisationen und MA auf die Stufe rot zurück (Abschottung, Machtspiele, adhoc Lösungen) und suche nach vermeintlich einfachen Lösungen. Statt einen Schritt nach vorne zu besseren Lösungen, geht die Organisation eine Stufe zurück – und riskiert den Unternehmenserfolg.
Die Verbesserung der Organisations-Resilienz und der individuellen MA Resilienz können hier zu einer Trendwende beitragen. Sie eröffnen einen Weg, um zu einem Normalzustand zurück zu kommen. Denn Stress wird „individuell Erlebt“ und kann entsprechend sehr gut verändert, z.B. durch neue Glaubenssätze oder Klarheit bzgl. der eigenen Bedürfnisse, sowie konkrete Übungen bearbeitet werden . In Verbindung mit mehr Klarheit in der Ausrichtung der Organisation, authentisches Auftreten der FKs und natürlich mutige Entscheidungen (z.B. die Probleme beim Namen zu nennen) kann Resilienz so zu einem Game-Changer werden.
The State defines the Outcome erinnert somit daran, dass aus dem richtigen Erlebniszustand heraus und mit der richtigen Fit-ness auch schwierige und komplexe Probleme gelöst werden können, da mehr Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und Lernen wieder stattfindet.